Eine Weihnachtsgeschichte

 

 

"Hier ist jemand, der dich sehen will", sagte Rodoin, als sein Neffe über die Schwelle trat. Und setzte prompt hinzu: "Du brauchst nicht so zu strahlen, er ist nicht weiblich."

 

Schade, dachte Fulcko. Das schloß einen Besuch von Irmingard aus. Und auf einen solchen hatte er heimlich gehofft, jetzt, wo die Feiertage kurz vor der Tür standen. Sicherlich würde sie sich von ihrem Bruder demnächst in das herzogliche Gut herüber bringen lassen, vorgeblich, um dort bei den Vorbereitungen zum Weihnachtsfest zu helfen, und in Wahrheit, um mit Fulckos Schwester Hiltrud den letzten Klatsch zu besprechen und Fulcko aus den Augenwinkeln verheißungsvolle Blicke zuzuwerfen.

 

In der großen Halle des Salhauses war es zu dieser frühen Stunde, bevor das Feuer entzündet wurde, noch empfindlich kalt. Deshalb wunderte Fulcko sich nicht, daß der kleingewachsene Mann, dessen schulterlanges braunes Haar mindestens ebenso ungewöhnlich war wie das säuberlich rasierte Gesicht, seinen dick gefütterten Wollmantel, die pelzbesetzte Mütze und die bestickten ledernen Handschuhe anbehalten hatte, während er wartete.

 

"Da ist eine Naht aufgegangen an deinem Handschuh, Lantpert", erklärte Fulcko statt eines Grußes. Sein Gegenüber verdrehte die Augen zum Reetdach des Salhauses.

 

"Dir auch einen guten Morgen. Es gibt Arbeit."

 

"Ja, du mußt den Handschuh flicken."

 

Lantpert seufzte. "Er hält schon noch. - In Singoldinga hat der Fluß eine Leiche angetrieben."

 

"Und?"

 

"Hol dein Pferd, wir sehen uns den Toten an."

 

Fulcko stöhnte. "Lantpert, in drei Tagen ist Weihnachten."

 

"Eben. Wir sollten zusehen, daß wir die Sache vorher aus der Welt schaffen."

 

"Sag ihnen, sie sollen den Toten begraben und ein paar Paternoster für ihn beten, und die Sache ist aus der Welt geschafft."

 

Lantpert sah seinen Freund starr an. "Mein lieber Fulcko", dozierte er. "Mein Herzog, der mich in dieser Gegend zum Wahrer von Recht und Gesetz bestimmt hat, mag vielleicht nicht mehr der Herzog sein - aber ich weiß immer noch, was ich ihm und meinem Amt schuldig bin."

 

"Eigentlich", korrigierte Fulcko süffisant, "bist du nur Iudex. Deine Aufgabe ist es, alle vierzehn Tage einen Gerichtstag abzuhalten - und das auch bloß, weil ihr Baiern anscheinend mit dem guten alten Brauch des Schöffengerichts nicht zu Rande kommt. Niemand hat gesagt, du sollst hinter jedem Verbrechen her schnüffeln, das in deinem Amtsbezirk vielleicht von irgendeinem armen Teufel begangen worden sein könnte."

 

Lantpert verschränkte die Arme vor der schmächtigen Brust. "Richtig. Mit der Aufgabe des Schnüffelns hierzulande hat euer glorreicher Karl seine braven Vasallen beauftragt. Sprich: euch. Also erinnere dich an deine Pflicht und sieh zu, daß du dir einen Mantel und warme Stiefel anziehst, man friert sich im Sattel den Hintern ab bei dieser Kälte."

 

 

 

"Von wegen Pflicht", knurrte Fulcko über den Rand seines wollenen Mantels hinweg, als er wenig später auf dem Rücken seines alten Kleppers neben dem Richter die Straße entlang trabte. Von Osten her pfiff ein eisiger Wind die Hügelkuppe herunter, und der Atem von Mensch und Tier stand als weiße Wolken in der Luft. "Du bist einfach so neugierig, daß es sämtliche Heiligen im Himmel erbarmen sollte."

 

"Sie werden sich schon erbarmen", grinste Lantpert. "Ich halte Neugier für eine läßliche Sünde."

 

"Unpraktisch ist sie auf alle Fälle", ergänzte der Franke trocken. "Vor allem, wenn sie einen daran hindert, sich am warmen Ofen niederzulassen, wie das jeder vernünftige Mensch an solch einem Tag tun sollte."

 

Zu seinem Bedauern schien er der einzige zu sein, dem das kalte Wetter aufs Gemüt schlug. Selbst die Pferde wirkten vorweihnachtlich hochgestimmt bei der Aussicht auf einen Ritt durch winterliches Gelände. Fulckos Brauner, der seit Tagen im Stall gestanden hatte, hatte seinen Reiter mit geradezu jugendlichem Übermut begrüßt, als dieser ihn sattelte und aufzäumte. Sobald er im Hof die dunkelbraune Stute des Richters erschnuppert hatte, schritt er sowieso daher, als wäre er das Streitroß des fränkischen Marschalks und nicht ein knochiger alter Gaul undefinierbarer Färbung, dem das Winterfell in dicken Büscheln von den Flanken hing und der mit knapper Not genug Kraft aufbrachte, das Gewicht seines hochgewachsenen Reiters die gefrorene Straße entlang zu schleppen.

 

Zugegeben, der Tag war schön, vor allem, als sie die Straße auf der Hügelkuppe erreicht hatten, die dort zwischen dichten Baumreihen verlief und vor dem eisigen Wind geschützt war. Rauhreif saß in dichten weißen Spitzen auf allen Zweigen und verwandelte den Wald in eine Feenwelt aus Kristall, die einzelne Sonnenstrahlen aufblitzen und funkeln machten. Es hatte zwar geschneit, aber wie immer kurz vor dem Hochfest hatte die Sonne zur Unzeit genug Kraft entwickelt, um es tauen zu lassen, und nun war es wieder zu kalt für weiteren Schnee. Hier unter den Bäumen links und rechts der alten Römerstraße lag das Weiß freilich noch in breiten Tuchbahnen, über die ab und an ein Eichhörnchen huschte, das sich verzweifelt zu erinnern versuchte, wo in aller Heiligen Namen es im Herbst seine Nüsse versteckt hatte.

 

Wenn Fulcko ehrlich war: der schweigsame Ritt zu Pferd durch diesen scheinbar schon für die Ankunft des Herrn bereiteten Wald, für dessen kostbaren Schmuck niemand als Gott selbst gesorgt hatte, war eine viel bessere Art, den Tag zuzubringen, als im düsteren Salhaus herum zu sitzen, abwechselnd Bauch und Rücken Richtung Feuer zu strecken und sich inwendig mit Wein gegen die Kälte zu wappnen.

 

Nicht, daß er das laut zugegeben hätte, natürlich.

 

 

 

Selbst der feierlichste Wintertag verlor einiges von seinem Reiz, wenn man am Ufer eines gurgelnden Flüßchens auf dem gefrorenen Erdboden kniete, umgeben von den zersplitterten Säulenstümpfen einer alten römischen Zollstation, und sich eine bläulich verfärbte Wasserleiche ansah. Die toten Augen, die in den eisblauen Himmel starrten, gehörten zu einem Mann um die vierzig, gut genährt und mit grauem Haarring um die Glatze.

 

Lantpert richtete sich leicht ächzend aus seiner Hocke auf und klopfte sich den Rauhreif von den Knien.

 

"Kann nicht lange tot sein", resümierte er. "Länger als ein paar Stunden hat er kaum im Wasser gelegen, oder er müßte aufgedunsener aussehen, selbst bei dieser Kälte. Wo habt ihr ihn aus dem Wasser gezogen?"

 

Einer der Bauern aus Singoldinga, die dabei standen, deutete auf die breite Windung der Semida, die sich in kurzer Distanz zwischen kleinen Eisschollen hindurch ihren Weg Richtung Ardeoingas suchte. "Gleich da hinten. Ist er erschlagen worden?"

 

Lantpert beugte sich noch einmal zu dem Toten hinunter, wendete ihn halb um und betrachtete eingehend die tiefe Delle an seinem Hinterkopf. Schließlich ging er sogar so weit, die Verletzung bis hinunter zum Nacken mit den Fingern zu betasten.

 

"Ich glaube nicht", antwortete er, und für Fulcko klang es, als sei er selbst überrascht. Wenn nicht sogar - ketzerischer Gedanke! - enttäuscht. "Mir sieht es eher so aus, als sei er gestürzt und habe sich den Kopf dabei gestoßen, vielleicht an einem Stein oder einem sonstigen Hindernis. Schaut euch die Form der Verletzung an: das müßte eine sehr krumme Keule sein, die so ein seltsames Loch in einem Schädel hinterläßt. Und hier, das rechte Hosenbein samt Wadenbinden ist vollkommen zerfetzt, der Schuh nicht minder, obwohl es gutes, stabiles Leder war, mit doppeltem Zwirn genäht. Ich denke, der Mann wollte den Fluß überqueren, aber irgendwo anders als hier, denn die Furt ist ein sicherer Übergang. Dabei ist er mit dem rechten Fuß vom guten Pfad abgerutscht, fehlgetreten und gestürzt. Beim Sturz schlug er hart mit dem Kopf irgendwo auf, verlor die Besinnung und fiel ins Wasser." Er zuckte die Achseln. "Und bei dieser Kälte ..."

 

"Und deswegen zerrst du mich vor die Tür?" empörte sich Fulcko. "Wegen eines Schafskopfes, der zu dämlich ist, die Straße und die Furt zu nehmen, wenn er schon mitten im Winter unterwegs sein muß?" Er drehte sich nach dem Bauern um. "Weiß man, wer er ist?"

 

Der Bauer nickte und schaute betreten von Fulcko auf Lantpert und zurück. "Ja, Herr."

 

Daß die Leute (also, manche zumindest) anfingen, ihn hier mit "Herr" anzureden, während er zu Hause und am Königshof ein achtzehnjähriger, mittelloser Niemand gewesen war, gefiel Fulcko eingestandenermaßen in Baiern am besten. Wenn jemand in dieser Gegend mit einem der teuren, kostbar geschmiedeten Schwerter herumlief, wie Fulcko eines trug, dann mußte es nach Ansicht der meisten Einheimischen eben ein "Herr" sein. Und Fulcko plauderte es nicht unbedingt herum, daß seine Spatha in Wahrheit aus der Waffenkammer König Karls stammte, aus der er sich hatte ausrüsten dürfen.

 

Leider stellte diese neue Position ihn manchmal vor unangenehme Aufgaben. Der Bauer schaute beide jungen Männer gleichermaßen hilfeheischend an und deutete dann auf die steile Anhöhe hinter sich, von der die Reetdächer der kleinen Siedlung zum Fluß herablugten - zusammen mit einer dicht gedrängten, bibbernden, aber überaus wißbegierigen Schar von Frauen und Kindern, für die dieser Tote eine willkommene Ablenkung vom winterlichen Einerlei darstellte.

 

"Darum haben wir Euch ja gleich rufen lassen, Richter. Sie warten droben."

 

 

Graf Hatto von den Fagana war das, was man wohl gemeinhin eine imposante Erscheinung nannte. Beinahe ebenso groß und breit gebaut wie Fulcko, trug er von Kopf bis Fuß edelste Stoffe mit golddurchwirkten Borten, einen zur Gänze mit Fell gefütterten Mantel und so sorgfältig und fein gearbeitete Reitstiefel, daß Fulcko vor Neid hätte in den Schnee beißen mögen. Wie er da im Raum stand, das sorgfältig gestutzte Haar trotz seiner fast fünfzig Jahre noch dicht und voll und nur an den Schläfen ergraut, hätte er wahrscheinlich einfach durch seine Ausstrahlung grenzenloser Autorität das gesamte Dorf mit einem Wink quer durchs Reich scheuchen können, um seine Wünsche zu erfüllen. Das erklärte, warum alle Welt das Oberhaupt der Fagana als "Graf" Hatto anredete, obwohl er, soweit Fulcko wußte, vom König nie ein derartiges Amt zugeteilt erhalten hatte.

 

"Da ist ein Faden lose an Eurem Handschuh, Iudex."

 

Oh ja. Nicht zu vergessen: Graf Hatto war nicht unbedingt ein Freund von Lantpert.

 

"Graf Hatto." Lantpert fletschte die Zähne zu etwas, das wohl einem Lächeln ähnlich sehen sollte. "Eure Besorgnis rührt mich." In der Halle brannte zwar ein Feuer, aber Fulcko hatte das Gefühl, es sei gerade merklich kälter geworden im Raum.

 

"Ihr müßt jetzt besser auf Euch achten, Richter", fuhr der Adlige genüßlich fort, nachdem er Lantperts schmale Gestalt vom Scheitel bis zur Sohle naserümpfend begutachtet hatte. "Schließlich hat sich hierzulande einiges geändert in letzter Zeit, nicht wahr? Ihr repräsentiert mit Eurem Amt jetzt nicht mehr einen Herzog, sondern direkt den König des fränkischen Reiches. Mir scheint, daß der König höhere Ansprüche an seine Beamten stellt..."

 

"Das würde zumindest erklären, weshalb nicht Ihr Gaugraf geworden seid, sondern Cotheram", ergänzte Lantpert trocken, und Fulcko, der darüber hatte nachdenken wollen, wie er die Situation ein wenig entspannen könnte, war erst einmal vollauf damit beschäftigt, ihn entsetzt von der Seite anzustarren. Hatto machte eine Geste, als ob er nach seinem Schwertgriff langen wollte, hatte den Gurt aber der Bequemlichkeit halber beim Eintritt ins Haus gelöst und das Schwertgehänge über eine Stuhllehne gelegt. Notgedrungen mußte er sich darauf beschränken, den unverschämten Sprecher wütend anzufunkeln.

 

"Ich warne Euch, Lantpert. Ein Ziegenböckchen sollte keinen Bären anmeckern, wenn es nicht verspeist werden will. Hinter Euch steht niemand mehr. Ihr seid nur noch ein kleiner Dorfrichter und allein deswegen in Freiheit, weil Ihr zu unbedeutend seid, als daß Euch jemand wahrnehmen würde. Wenn ich wollte, könnte ich Euch im Handumdrehen vernichten."

 

"Dann bringt besser einen großen Sack voll Gold mit", zischte Lantpert. "Noch ist das Gesetz nicht geändert. Noch koste ich sechshundertvierzig Solidi an Wergeld..."

 

"Es gibt elegantere Methoden, solche wie Euch loszuwerden, als plumpen Mord. Aber wenn Ihr so weitermacht, legen vielleicht ein paar Leute zusammen."

 

"Grüßt Euren Sohn von mir", lächelte Lantpert in falscher Freundlichkeit, und Fulcko sah sich genötigt, einzugreifen, bevor die Dinge völlig aus dem Ruder liefen.

 

"Wir sind wegen eines Toten gekommen, den man aus der Semida gezogen hat", unterbrach er hastig. "Gehörte der Mann zu Euren Leuten, Graf?"

 

"Zu meinen?" Hatto stieß ein verächtliches Schnauben aus. "Nein, gewiß nicht. Da mußt du dich schon an den da wenden ..."

 

Eine Hand wedelte kurz in Richtung einer der dunklen Ecken des Salhauses, aus der prompt eine rundliche kleine Gestalt hervorkugelte, die offensichtlich längst auf ihren Auftritt gewartet hatte. Das breite Gesicht des Mannes wurde erst ab den Ohren über dem Fellkragen eines sicher nicht billigen Wintermantels sichtbar und verschwand ab den Augenbrauen sofort wieder unter einer mächtigen Fellmütze. Trotz dieses eingeschränkten Blickfelds entging den verschmitzten kleinen Äuglein unter Garantie nichts von dem, was sich in ihrer Umgebung zutrug, und das Gehirn schien beständig mit keiner anderen Überlegung beschäftigt als der, wie sich aus dem Gesehenen wohl ein Vorteil ziehen ließe.

 

Natürlich kannte auch Fulcko diesen Mann, der zu den wohlhabenderen Bauern der Gegend gehörte. "Chunibert. Kennst du den Mann?"

 

"Freilich kenne ich den, freilich", quäkte der Angeredete. "Der Ekholf ist's, einer meiner besten und treuesten Knechte, den mir diese Kerle da hinterrücks erschlagen haben..." Er streckte die dicklichen Finger anklagend und gekrümmt wie Krallen in Richtung des Fagana.

 

"Soweit wir bis jetzt sagen können, war es ein Unfall", beeilte Fulcko sich einzuwerfen. Der Bauer musterte ihn zweifelnd.

 

"So. Und das sage ich, dennoch hat niemand Schuld als der da!"

 

"Ich denke, wir werden nicht darum herumkommen, uns die Geschichte anzuhören", seufzte Lantpert halblaut, "egal, wie sehr wir uns sträuben. - Also, Chunibert? Was hat dein Knecht überhaupt hier in Singoldinga getrieben? Deine Güter liegen doch weiter nach Süden zu."

 

"Wissen tu ich's nicht, was er hier gemacht hat", betonte der Bauer und hob geheimnisvoll den Zeigefinger. "Aber denken kann ich's mir."

 

"Dann denk doch einmal laut."

 

"Seine Braut wird er gesucht haben, die Bega, dieses liederliche gottlose Weibsstück." Wieder fuhr er abrupt zu Hatto herum. "Und daran ist nur der da schuld!"

 

"Was kann ich dafür, wenn deine Hörige einen von meinen Knechten dem deinen vorzieht?" spottete der Graf. "Du hast sie doch dem Ekholf sowieso nur gegeben, damit sie nicht zu meinem Fritilo läuft."

 

"Fritilo?" erkundigte Lantpert sich mit hochgezogenen Brauen, und Hatto schmunzelte selbstzufrieden. "Einer meiner Hörigen. Ich habe ihn zum Kunstschmied ausbilden lassen, und ich darf sagen, er macht mir alle Ehre." Er nestelte an seinem Mantel herum, um die kunstvoll gefertigte Schulterspange zu zeigen. "Solch feine Arbeiten wie er haben selbst die Alten nicht geschaffen."

 

"Und so feines Tuch, wie meine Bega es weben kann, trägt selbst der König in Aachen nicht!" behauptete Chunibert prompt.

 

"Was weiß ein Bauer schon vom König und von Aachen!"

 

"Und was muß ein vornehmer Adliger und Graf einem armen Bauern seine besten Leute abspenstig machen?" hielt Chunibert jammernd dagegen. "Gebt es zu, Herr Hatto, Ihr habt Euren Fritilo absichtlich auf meine Bega angesetzt, damit er sie von mir weg lockt!"

 

"Ist dieser Fritilo denn so ein Adonis?" erkundigte Lantpert sich spöttisch. Der Graf sah ihn verwundert an.

 

"Er ist Kunstschmied, wie ich schon sagte."

 

Lantpert verstummte, seufzte dann leise und nickte. "Ja."

 

"Also", resümierte Fulcko in die plötzliche Stille. "Die Bega liebäugelte mit dem Fritilo, sollte aber gegen ihren Willen den Ekholt bekommen. Und wenn der Ekholt hier war, um seine Braut zu suchen, dann heißt das wohl, daß die Bega davongelaufen ist?" Chunibert bestätigte es mit einem grimmigen Nicken und hätte zu einer weiteren kummervollen Tirade angesetzt, hätte Fulcko sich nicht schnell an Hatto gewendet. "Und was tut Ihr hier?"

 

"Ich bin auch auf der Suche", knurrte der Graf. "Und zwar nach Fritilo."

 

"Der ist auch ausgerissen?"

 

"Ich kontrolliere nicht dauernd sein Kommen und Gehen. Aber er ist jetzt seit zwei Tagen verschwunden, ja. Und er hat ein Pferd und eine Ziege aus meinem Stall mitgenommen." Er deutete nun seinerseits auf Chunibert. "Ich hatte angenommen, daß er sich bei diesem Mädchen versteckt und daß deren Herr ihn deckt, weil er auf diese Weise billig an einen hervorragenden Handwerker kommt. Aber anscheinend habe ich mich getäuscht."

 

"Ja", stellte Fulcko fest. "Es sieht ja wohl alles danach aus, als wären die Bega und ihr Liebster gemeinsam auf und davon."

 

"Mitten im Winter. Zu zweit. Ohne Unterkunft in der Nähe, wohin sie sich flüchten könnten", sinnierte Lantpert. "Das tut man nur, wenn man wirklich verzweifelt ist." Er schaute Chunibert an. "Ist irgendetwas passiert, was sie so weit getrieben haben könnte?"

 

Der Bauer verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch.

 

"Nun?"

 

"Dieses liederliche Weibsstück!"

 

"Laß mich raten", seufzte Lantpert. "Beim 'Liebäugeln' mit dem Fritilo war es nicht geblieben?"

 

"Hochschwanger war sie!" wütete der Bauer. "Ich weiß nicht, wie sie's geschafft hat, das so lange zu verstecken - naja, ein bißchen mollig war sie immer, aber... Und dann steht sie da und sagt mir ins Gesicht, daß sie den Ekholf nicht nimmt, und wenn ich mich auf den Kopf stelle, und daß sie den Fritilo will und sonst keinen. Und ich habe ihr gesagt, solange mir der Graf nicht den Preis bezahlt, lasse ich sie nicht gehen, und wenn ich sie an ihrem Webstuhl anketten müßte."

 

"Schläge?" fragte Lantpert knapp.

 

"Vielleicht ein paar", gab der Bauer zu. "Aber keine festen. Weil sie doch schwanger war."

 

"Sehr mildtätig von dir."

 

"Und dann ist sie hinaus gestürmt, und seitdem hat sie keiner mehr gesehen. Wir haben uns gedacht, die beruhigt sich schon wieder. Der Ekholf hätte sie ja genommen, sogar mit dem Balg von dem anderen. Aber als sie nicht mehr aufgetaucht ist, habe ich den Ekholf losgeschickt, damit er sie sucht." Er zuckte hilflos die Achseln. "Und wie dann der Ekholf nicht mehr gekommen ist, bin ich selber los und habe den Ekholf gesucht."

 

"Nun, den Ekholf haben wir ja inzwischen gefunden", stellte Lantpert trocken fest. "Den kannst du schon einmal mitnehmen, den armen Kerl. Und bei diesem Wetter ist es gut möglich, daß die zwei anderen auch schon alles hinter sich haben und irgendwo auf der Straße erfroren sind. Da habt ihr beiden Herren in der Tat ein überaus christliches Werk vollbracht, das muß man sagen."

 

"Alles Eure Schuld!" ereiferte Chunibert sich wieder, und einen Moment sah es aus, als ob er Hatto an den Kragen wollte. "Ich hätte die Bega ja gehen lassen, wenn Ihr bloß..."

 

"Ich zahle doch nicht den Gegenwert eines Reitpferds für eine simple Magd..."

 

"Das ist auch nicht unverschämter als das, was Ihr für den Fritilo verlangt habt!"

 

 

 

Das Gezeter ging noch eine Weile weiter, aber Fulcko und Lantpert tauschten einen kurzen Blick und beschlossen dann in stummer Übereinkunft, ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden. Zum Beispiel der Frauenstimme, die sich hinter der Eingangstür auf der Schwelle in leisem, aber sehr bestimmtem Ton mit einer anderen Stimme herumstritt.

 

"Nein, Ermelind, du kannst nicht zu den Herren hinein."

 

"Aber wenn ich doch was weiß?" beharrte eine Kinderstimme.

 

"Was willst du schon wissen, hm?"

 

"Was von dem Mann, den sie aus dem Fluß gezogen haben."

 

"Ich hab dir doch gesagt, du sollst da nicht hingehen."

 

"Aber der Birtilo und die Gishild haben ihn sich auch angeschaut."

 

"Wenn die Mutter von der Gishild nichts dagegen hat, daß ihre kleine Tochter tote Leute angafft, dann meinetwegen. Aber ich habe etwas dagegen..."

 

Lantpert schaute Fulcko wieder an, und der Franke grinste und öffnete die Tür. Mutter und Tochter unterbrachen ihr Streitgespräch abrupt.

 

"Bist du die Ermelind?" erkundigte Fulcko sich bei dem Kind. Das Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, mit einer schmalen Vitta recht schief im strohblonden Haar, nickte strahlend.

 

"Dann komm einmal herein zum Richter. Wenn du etwas gesehen hast, bist du ja eine Zeugin. Dann wollen wir das auch hören."

 

Während Mutter und Tochter in die Halle traten, beäugte Lantpert die beiden mißtrauisch, und Fulcko dachte, daß der Richter ein sehr eigentümliches Verhältnis zu Kindern hatte: Die meiste Zeit schien er überhaupt nicht zu wissen, wie er sie zu behandeln hatte und mit ihnen umgehen sollte. Während Kinder ihrerseits ihn allesamt heiß und innig liebten und ihm meistens nachliefen wie junge Hunde.

 

Jedenfalls konnte Fulcko sich denken, daß diese Befragung er selbst würde durchführen dürfen.

 

"Also, Ermelind", setzte er an. "Den toten Mann, den man aus dem Wasser gezogen hat. Hast du den schon einmal gesehen?"

 

Das Mädchen nickte eifrig. "Heute morgen, wie er schon tot war, und vorher schon einmal, wie er noch gelebt hat."

 

"Und wann war das, als du ihn zum ersten Mal gesehen hast?"

 

"Gestern ganz spät, kurz bevor sie das Tor zugemacht haben."

 

"Hast du mit ihm geredet?"

 

"Zuerst nicht. Mit fremden Leuten soll ich nicht reden, sagt meine Mutter." Ein leicht empörter Blick glitt zu der Frau neben ihr.

 

"Aber dann schon?" erkundigte sich Fulcko wieder. Ermelind knetete verlegen den Saum ihres Kleids.

 

"Naja, der Mann hat die Leute gefragt, aber die Leute haben ihm nicht sagen können, was er wissen wollte. Aber ich hab's doch gewußt."

 

"Was wollte der Mann denn wissen?"

 

"Ob eine Frau im Dorf war. Aber die war nicht da. Oder ein anderer Mann, einer mit schwarzen Locken und feinen Kleidern. Und den hab ich gesehen!"

 

"Schwarze Locken und feine Kleider?" Lantpert sah sich fragend nach Hatto um, und der nickte.

 

"Ja, das könnte Fritilo gewesen sein. Ich habe ihn gut gehalten, er war mir ja auch viel wert."

 

"Wann war dieser andere Mann denn da?" fragte Fulcko weiter. Das Kind überlegte.

 

"Am selben Tag, aber in der Früh. Er kam zu Fuß, hat bei mir angehalten und gefragt, ob es im Dorf eine Hebamme gibt."

 

"Na wunderbar", kommentierte Lantpert ernüchtert.

 

"Aber ... aber soweit war die Bega doch noch gar nicht", zeterte Chunibert und fuhr wieder zu Hatto herum. "Das sage ich Euch, wenn sie wegen Eures Schönlings mit der ganzen Aufregung eine Fehlgeburt hatte... Beim nächsten Gerichtstag verklage ich Euch, daß Ihr Eure Burg verpfänden müßt!"

 

"Das werden wir ja sehen, wer hier wen verklagt. Wenn meinem Handwerker auch nur das Geringste passiert ist, wegen deiner liederlichen Magd..."

 

"Gibt es denn im Dorf eine Hebamme?" fragte Lantpert inzwischen. Die Frage war an niemand Bestimmtes gerichtet, aber Ermelind antwortete, bevor irgendjemand sonst es hätte tun können.

 

"Freilich, die alte Totana. Das habe ich dem Mann mit den schwarzen Haaren auch gesagt. Und dann ist er gleich zu ihr gelaufen und mit der Totana wieder davon."

 

"Das war gestern früh?" vergewisserte sich Fulcko.

 

"Ja."

 

"Und alles das hast du dem Toten auch erzählt?"

 

"Ja, aber da hat er noch gelebt."

 

"Und was hat er daraufhin gemacht?"

 

"Er hat mich gefragt, wo der schwarzhaarige Mann hingegangen ist, zur Furt hinunter oder woanders hin. Und ich habe ihm gesagt, daß er und die Totana nicht zur Furt sind und daß ich mir schon denken kann, wo sie hin wollten."

 

"Nämlich wohin?"

 

Wieder sah Ermelind reichlich verlegen ihre Mutter an. "Wenn man am Fluß entlang geht, dann gibt's da eine Stelle, wo der Sturm im Herbst einen Baum ins Wasser geworfen hat, und da liegen ganz viel Äste und Steine und Dreck im Wasser. Und jetzt im Winter ist das alles zusammengefroren und fast wie eine Brücke, und man kommt da direkt ins Moor, viel schneller als über die Straße." Erneut flog ein Blick zu der Frau neben ihr. "Aber meine Mutter sagt, daß ich da nicht hingehen soll", ergänzte sie pflichtschuldig. "Weil es nämlich gefährlich ist, da über den Fluß zu gehen."

 

"Ja, und wie gefährlich siehst du ja", entsetzte sich die Mutter. "Wenn sogar erwachsene Männer dabei verunglücken und ertrinken." Sie schaute von Fulcko auf Lantpert und zurück. "Ich frage euch, was macht man mit so einem Kind?"

 

"Möglichst bald verheiraten", schlug Lantpert vor. "Allerdings nicht gegen ihren Willen. Das könnte gefährlich werden."

 

"Gegen ihren Willen?" Die Frau lachte leise und liebevoll. "In unserem Haus geschieht schon jetzt nichts gegen ihren Willen." Sie fuhr dem Kind mit der Hand durchs blonde Haar und versuchte die verrutschte Vitta wieder zurecht zu zupfen.

 

"Jedenfalls hast du uns sehr geholfen", lobte Fulcko, und das Mädchen strahlte und schaute seine Mutter triumphierend von unten her an.

 

"Siehst du? Ich habe dir ja gesagt, daß es wichtig ist."

 

 

 

"Und was jetzt?" fragte Hatto, nachdem die Frau das Kind an der Hand genommen und aus dem Zimmer geführt hatte. Er wirkte gelangweilt. "Ich will meinen Hörigen wieder haben."

 

"Und ich meine Magd", bestätigte Chunibert. Lantpert seufzte.

 

"Ich schlage vor, wir schicken jemanden zum Haus von dieser Hebamme, um nachzusehen, ob sie vielleicht zurück ist. Dann gehen wir zu dem Windbruch, von dem das Kind erzählt hat, und schauen nach, ob wir wenigstens die anderen zwei Unglücksvögel vor dem Erfrieren bewahren können."

 

Wie nicht anders zu erwarten, war das Haus der Hebamme leer. Wenig später ritten Fulcko, Lantpert und Hatto, begleitet von Chunibert und einem halben Dutzend weiterer neugieriger Bauern und Höriger, nachdem sie die Semida an der sicheren Furt überquert hatten, querfeldein am Fluß entlang nach Süden. Die Semida schlängelte sich hier in zahllosen Windungen und Seitenarmen durch ihr allzu breites Tal, dessen Grund sich irgendwann übergangslos in sumpfigen Morast verwandelte.

 

Lantpert, der sich neben dem Franken hielt, warf Fulcko unterwegs von der Seite einen Blick zu.

 

"Jetzt frag schon, bevor du platzt", grinste er.

 

Fulcko seufzte, gab aber nach. Vor allem, weil er wußte, wie gerne sein Freund mit seinen ungewöhnlichen Kenntnissen protzte. "Was ist ein 'Adonis'?"

 

"Nicht was, sondern wer", korrigierte Lantpert. "Adonis war in der Sage der Alten ein wunderschöner menschlicher Jüngling. So wunderschön, daß sich eine der heidnischen Göttinnen in ihn verliebte. Ihr eifersüchtiger göttlicher Liebhaber verwandelte sich daraufhin in einen rasenden Eber und brachte den armen Adonis um. Aus dem Blut des Jünglings wuchsen wunderschöne Blüten."

 

"Aha", machte Fulcko. Und erkundigte sich dann: "Das hast du als Kind im Kloster gelernt?"

 

"Ja", bestätigte Lantpert bereitwillig.

 

"Darf ich dich noch etwas fragen?"

 

"Natürlich."

 

"Warum haben sie euch im Kloster so viel über heidnische Götzen erzählt?"

 

Darauf hatte auch Lantpert keine gute Antwort, und kurz danach kamen sie an die Stelle, von der das Kind gesprochen hatte: der Windbruch bildete wirklich mit den im Laufe der Zeit angeschwemmten Ästen einen festen natürlichen Damm, den man gut als Flußübergang benutzen konnte.

 

Wenn man vorsichtig war und nicht fehltrat.

 

"Ich denke, wir haben die Stelle, an der der arme Ekholf in den Fluß stürzte", resümierte Lantpert vom Sattel aus und deutete auf die zerfetzten Stoffbänder und Wollfäden, die von einigen überstehenden Ästen des Damms hingen. Alle schwiegen einen Moment betroffen, aber lange dauerte das nicht.

 

"Und alles nur wegen eines Mädchens, das ihn eh nicht wollte", sagte Hatto.

 

"Sie hätte sich schon damit abgefunden", fauchte Chunibert zurück. "Der Ekholf war ein guter Kerl, jawohl, das war er."

 

"Und weil er ein guter Kerl war und brav gemacht hat, was ihm sein Herr aufgetragen hat, darum ist er jetzt tot", faßte Lantpert zusammen. In einem Ton, der selbst die Luft dieses Wintertages an Eisigkeit übertraf. Er drehte sich zu den Bauern um, die ihnen aus Singoldinga gefolgt waren.

 

"Als Ekholf hier war, muß es schon ziemlich dunkel gewesen sein. Wahrscheinlich ist er deshalb fehlgetreten. Aber ein paar Stunden vor ihm, als Fritilo mit der Hebamme hier ankam, war es hell, und sie sind wahrscheinlich sicher auf unsere Seite herüber gelangt. Gibt es hier irgendeinen Ort, an dem die Flüchtlinge Unterschlupf gefunden haben könnten?"

 

Die Bauer brummten in Gedanken, dann sagte einer: "Ein Stückchen weiter, da hinter dem Birkengehölz vor uns, wäre der Stall."

 

"Ein Stall", sagte Lantpert. Der Bauer nickte.

 

"Den haben wir im vorigen Frühjahr gebaut, weil wir im Sommer, wenn das Moor trocken genug ist, oft das Vieh zum Grasen auf die Wiesen treiben. Und da wollten wir einen Unterstand haben, falls ein Unwetter aufkommt."

 

"Ein Stall", wiederholte Lantpert kopfschüttelnd, und Fulcko gluckste.

 

"Und dabei sind noch drei Tage hin bis Weihnachten..."

 

 

 

 Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und folgte einem schmalen Trampelpfad, den sonst Hörige auf der Suche nach Feuerholz benutzten, tiefer ins Moor. Ab und an zeigten Fußspuren auf Schneeresten, daß in der Tat kürzlich jemand hier gegangen war, aber bis auf die gelegentlichen Warnrufe eines Eichelhähers blieb alles ruhig. Nachdem sie die kleine Ansammlung rauhreifverkrusteter Birken umrundet hatten, standen sie beinahe vor der Eingangstür des windgeschützt errichteten Stalls, dessen Dach sogar halbwegs dicht aussah.

 

Und der Stall hatte tatsächlich Bewohner gefunden, denn aus einem der Giebellöcher quoll eine dünne Rauchfahne in den Himmel. Vor der Tür saß, auf einem verwitterten Klotz, der sonst zum Holzhacken benutzt wurde, eine runzlige Alte mit tief in die Stirn gezogenem Kopftuch, die beim Anblick der Männer in lautes Gekicher ausbrach.

 

"Ja, wenn das nicht die Heiligen Drei Könige sind, von denen uns der Priester in der Kirche jedes Jahr erzählt. Hätte ich mir auch nicht träumen lassen, daß ich die einmal leibhaftig vor mir sehe..." Sie lachte meckernd über ihren eigenen Witz. Lantpert ließ sich mit mühsam unterdrücktem Seufzen aus dem Sattel gleiten.

 

"Dann bist du wohl die Totana?"

 

"Bin ich, bin ich", nickte die Alte. "Und dich kenne ich auch, du bist der Junge vom Grimoald, der so schön aus dem Gesetzbuch vorlesen kann." Lantpert sah aus, als wolle er etwas dazu sagen, ließ es aber bleiben und deutete stattdessen auf die Tür des Stalls.

 

"Und da drin?"

 

"Ist alles schon geschehen", keckerte die Hebamme. "Ihr könnt ruhig reingehen, der Vater ist auch schon drin. War eine schöne, saubere Sache, auch wenn das Kind früher kam als erwartet. Gute Hüften, das Mädel. Und ein strammer Bub, trotz allem, das muß man sagen."

 

Tja, da standen sie dann, ein halb verlegener, halb rührseliger Haufen ungebetener Retter, Lantpert, Fulcko, Graf Hatto von den Fagana, der Bauer Chunibert und ein halbes Dutzend Freier und Unfreier aus Singoldinga, vor den jungen Eltern, die vor Aufregung und Glück schier nicht wußten, was sie tun sollten, und nur selig in die Runde strahlten, und das alles vor dem Hintergrund von - nein, nicht Ochs und Esel, sondern in Gesellschaft des Graf Hatto entwendeten Pferds und seiner Ziege.

 

Ein ansehnliches Paar waren die beiden jungen Leute wirklich, mußte Fulcko zugeben: das Mädchen vielleicht siebzehn und zwar im Moment sichtlich durch die Geburt gezeichnet, aber rotwangig und schön und mit dem Kind an der Brust das Sinnbild der Mutterschaft, und ihr Auserwählter, der schwarzgelockte Fritilo, der kaum älter sein konnte als die Mutter seines ersten Sohns und, während er aufgeregt jeden einzelnen Besucher nötigte, das schlafende Kind zu betrachten, auf den Arm zu nehmen und zu lobpreisen, zwischendurch seinem Herrn stotternd versicherte, daß er Pferd und Ziege gewiß irgendwann zurückgebracht oder bezahlt hätte, aber daß sie sich doch keinen Rat gewußt hätten, er und die Bega, und daß er bestimmt irgendwie dafür sorgen wolle, daß alles ins Lot kommen werde...

 

"Ne timeas, Maria; invenisti enim gratiam apud deum. *) " Lantpert zog geräuschvoll auf, wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase herum und drehte sich abrupt nach Chunibert und Hatto um, die soeben im Begriff waren, den protestierenden Knaben von einem Arm auf den nächsten weiter zu reichen.

 

 

"Hört mir gut zu. Es ist mir vollkommen gleichgültig, wie ihr beiden die Sache regelt. Aber wenn sie bis zum nächsten Gerichtstag nicht geregelt ist, oder wenn einer von euch auf die Idee verfallen sollte, deswegen einen Prozeß bei mir anzustrengen, dann lasse ich euch beide mit Hunden vom Gerichtsplatz jagen!"

 

 

Sprach's, drehte sich auf der Ferse um und stapfte aus der Hütte, bevor jemand auf die Idee kommen konnte, ihm den Säugling in den Arm zu drücken.

 

Fulcko überlegte kurz, den beiden verdutzten Herren ein paar versöhnlichere Abschiedsworte zu hinterlassen, aber da ihm nichts Passendes einfiel, beließ er es bei einer angedeuteten Verbeugung und einem entschuldigenden Achselzucken.

 

 

 

 

Sie waren schon fast zu Hause, als es anfing zu schneien. Ganz sanft, so sachte, daß Fulcko lange Zeit nicht sicher war, ob es nicht nur Rauhreif war, der von den Ästen auf das Fell seines Kleppers rieselte, in winzigen, kaum sichtbaren Flocken, so leicht, daß sie beinahe in der Luft stehen blieben, als ob sie sich weigerten, zur Erde zu fallen.

 

"Gloria in excelsis deo", sagte Lantpert in die kalte Luft. "Et in terra pax.**)"

 

"Das kenne ich", nickte Fulcko. "Das sagt der Priester am Sonntag bei der Messe. Nur hört es sich bei dem anders an." Er grinste. "Weniger lateinisch."

 

Lantpert knurrte etwas Unfreundliches über die Latein- und Bibelkenntnisse bairischer Geistlicher, dann wurde er ernst. "Dem Ekholf hilft das alles nichts mehr. Ein Leben geht, ein Leben kommt. Und wir mitten drin fragen uns wieso..."

 

Er unterbrach sich, und seine Stute tänzelte kurz, als er die Zügel in die linke Hand wechselte, um besser an dem Handschuh an seiner rechten herumnesteln zu können. Schließlich führte er die Hand zum Mund, biß mit den Zähnen den lose herabhängenden Faden durch und spuckte ihn zur Seite.

 

"Ist die Naht jetzt glücklich ganz aufgegangen?" spöttelte Fulcko.

 

"Ach, halt den Mund."

 

"Warum sagst du deiner Hemma nicht, daß sie ihn flicken soll? Du bist ihr Herr, oder?"

 

"Schon. Aber deswegen muß ich mir trotzdem einen Vortrag anhören."

 

"Worüber?"

 

"Darüber, wie unvorsichtig ich mit meinen Sachen umgehe. Darüber, daß man, schon als ich ein Kind war, meine Hosen öfter flicken mußte als die meiner Brüder. Darüber, daß das Dach ausgebessert werden müßte und die Westwand vom Stall erneuert und daß wir zu viele Hunde haben und überhaupt." Er verzog leidend das Gesicht. "Denkst du, du könntest bei deiner Schwester ein gutes Wort für mich einlegen? Oder für meinen Handschuh?"

 

Fulcko legte die Stirn in gewichtige Denkfalten, ehe er lachte.

 

"Naja. Vielleicht läßt sie sich erweichen. Es ist ja bald Weihnachten."

 

 

 

*** Finis ***


*) "Ne timeas, Maria...": Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott (Lk 1,30)

**)"Gloria in excelsis...": Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden (den Menschen seiner Gnade). (Lk 2,14)

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